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Was die Energiewende mit der Schule zu tun hat - oder: Wie gelingt der Wandel?

Eine Antwort auf: Schulsystem: Fangt an mit Fridays for Bildung! | ZEIT ONLINE

 

Ekkehard Thümler, Bildungsexperte und Senior Fellow am Centre for Social Investment (CSI) in Heidelberg rief in der letzten Ausgabe der ZEIT die Zivilgesellschaft dazu auf, der Transformation des Schulsystems auf die Sprünge zu helfen. Er lässt damit auf eine schlechte Nachricht – die Schule wird sich nicht aus sich selbst heraus ändern – eine gute Antwort folgen: Deshalb müssen wir es tun!

 

In seinem Beitrag zieht Thümler die Parallele zur Energiewende, anhand derer er aufzeigt, wie ein „geglückte[r] Systemwandel“ durch die Zivilgesellschaft aussehen kann und was es dafür braucht.

Diese Analogie erscheint mir konstruktiv und lädt zum Aus- und Anbauen um.

 

Einspruch! Was heißt schon „geglückt“? oder: Statt am Ende stehen wir erst am Anfang.

 

Zunächst jedoch regt sich in mir ein kleines Aber: Die Energiewende ist m. E. noch längst nicht letztendlich „geglückt“. Vielmehr stecken wir mittendrin und bleiben teilweise viel zu weit hinter unseren Ansprüchen zurück. Während der Fokus in den letzten Jahrzehnten vor allem auf der Stromerzeugung lag, wurden andere, ebenso wichtige Bereiche sträflich vernachlässigt, wie beispielsweise Wärmeerzeugung, Verkehr, Industrieproduktion, meint Volker Quaschning, Professor für Regenerative Energiesysteme an der HTW Berlin in einem Podcast des mdr.

 

Genau das könnte, wenn wir bei der Analogie bleiben wollen, dem Schulsystem auch passieren. Beispiel: Mit über 2 Millionen Euro wird nun an der Uni Regensburg bis Mai 2026 der Zusammenhang des Fach- und fachdidaktischen Wissens einer Lehrkraft (= Professionswissen) mit dem Lernerfolg von Schüler*innen erforscht.

 

Schön und gut – das heißt aber gleichzeitig, dass zahlreiche traditionelle Gegebenheiten von Schule – die Aufteilung in Fächer und Klassen, das Einhalten von durchgetakteten Stundenplänen, die Vorgabe, wann was gelernt werden muss etc. – erst einmal bestehen bleiben. Wenn wir uns weiterhin auf das „domänenspezifische Wissen“ der Lehrkräfte konzentrieren, verpassen wir vielleicht die Chance, sowohl Fächer als auch die traditionelle Rolle von Lehrkräften generell zu hinterfragen und grundlegende Transformationsprozesse einzuleiten. Und das, obwohl wir längst wissen, dass Lernen Vernetzung braucht und eine emotionale Beteiligung bzw. intrinsische Motivation ausschlaggebend ist für nachhaltiges Lernen.

 

Wirklich zukunftsweisend wären meiner Ansicht nach Forschungsvorhaben, die offene, projektorientierte, interessengeleitete, klassen- und jahrgangsübergreifende, fächerübergreifende, auf Kooperation mit außerschulischen Partnern basierende Lernformate bzw. Strukturen umfassen. Also alles Dinge, die in den meisten staatlichen Schulen Deutschlands noch nicht selbstverständlich sind. Solche Studien sind unbedingt nötig, um Bildungsakteur*innen, Eltern (!), Schulen und Ministerien zu ermutigen, „echte“ Transformationsprozesse anzugehen. Wer den Wandel mit den althergebrachten Methoden herbeiführen möchte, darf keine anderen Ergebnisse erwarten, meint Thümler. Das bringt es auf den Punkt.  

 

Jetzt: Beste Bedingungen für den Wandel

 

Der Wandel ist also nicht „geglückt“, sondern gerade erst im Werden begriffen. Was sind jetzt aber die Gelingensbedingungen für Transformationsprozesse, die Thümler (bis jetzt) in der Energiewende beobachtet und auf die Umgestaltung der Schule überträgt? In einem 2020 beim CSI veröffentlichten Artikel geht er detaillierter darauf ein. Seine konstruktive Analyse zeigt: Es besteht Grund zur Hoffnung. Die Zeichen der Zeit stehen gut, dass sich gerade jetzt etwas bewegt – vorausgesetzt, dass sich die Gesellschaft dafür stark macht.

 

Wenn man das mal weiß, ist das zwar immer noch ernüchternd, aber wenigstens nicht mehr überraschend. Thümler benennt als Akteur*innen des Wandels die „Zivilgesellschaft“ und mit ihr Non-Profit-Organisationen, also Stiftungen, Social Entrepreneurships, Kultureinrichtungen etc. Ich sehe für den Bereich Schule da vor allem auch die Gruppe der Eltern und Schüler*innen sowie Bildungsgewerkschaften in der Pflicht – oder am Hebel. Als "Zusammenschlüsse von Bürgerinnen und Bürgern" können sie sich wehren und müssen ihre Stimme erheben gegen ein Schulsystem, das in Widersprüchen gefangen ist und das viele junge Menschen (und übrigens auch zunehmend Lehrkräfte…) verlassen, ohne ansatzweise an ihr Potenzial und ihre Möglichkeiten herangekommen zu sein. 

 

Also: Wie geht es besser?

 

1 Krisen ziehen Kreise

Krisen beschleunigen oder eröffnen Transformationsprozesse, wenn sie als „windows of opportunities” genutzt werden, schreibt Thümler. Ideale Bedingungen also – nach Schulschließungen, Lockdowns und jeder Menge Angst in der Luft. Studien konnten zeigen, dass der Fernunterricht für manche Kinder, was den Lernfortschritt angeht, ähnlich effektiv war wie Sommerferien, nur ohne Sommer und ohne Ferien, also eine für viele ziemlich zermürbende Zeit. Und dass Kinder Long Covid-Symptome aufweisen, ohne jemals an Corona erkrankt zu sein, wie jüngst eine Studie der pädiatrischen Fakultät in Dresden herausgefunden hat, bestätigt, was viele Psycholog*innen befürchtet haben: Die Pandemiemaßnahmen und ihr negativer Einfluss auf das Wohlbefinden und die geistige Gesundheit von Schüler*innen wurden unterschätzt. Nachdem sich für die jungen Menschen so viele Türen geschlossen haben, ist es also höchste Zeit, ein „window of opportunies“ für die Transformation von Schule zu öffnen.

 

2 Auf Ziele bauen

Dafür braucht es, so Thümler, „wirklich ambitionierte,  sehr langfristige Strategien und Ziele“ – was wiederum Mut erfordert. Denn das hieße im Falle des Schulsystems, dass vieles aufgelöst wird, woran man sich lange orientieren konnte.

„Die Zahlen von SchulabbrecherInnen und der in Lesen, Schreiben und Rechnen besonders leistungsschwachen SchülerInnen langfristig – d.h. in einem realistischen Zeitraum von 25 bis 50 Jahren – auf Null zu senken“, nennt er als langfristiges Ziel. Ja! Oder wie wäre es, wenn junge Menschen nach der Schule wirklich wüssten, was sie können, brauchen, machen wollen? Wenn sie sich darauf freuen würden, lebenslang zu lernen und auch wüssten, wie das geht? Wenn sie in der Lage wären, global zu denken und handeln, wenn sie wüssten, was es zu einem zufriedenen und gesunden Leben braucht, wenn sie Verantwortung übernehmen wollten und sich einen kritisch-konstruktiven Blick zu eigen gemacht hätten?

Das zu erreichen erfordert m. E. eine Haltung des idealistischen Anpackens. Und die ist leider eher in Stiftungen zu finden als in der Bildungspolitik. Aber immerhin, es gibt sie.

 

3 Viele und vielfältige Lösungen finden

Um diese Ziele zu erreichen, fordert Thümler deshalb „unkonventionelle Lösungswege“ z. B. von Non-Profit-Organisationen, denn: „Wenn eine Vielzahl sehr unterschiedlicher und auch sehr unkonventioneller Lösungsansätze erprobt wird, steigt die Wahrscheinlichkeit, am Ende nicht mit leeren Händen dazustehen, wie es bei der Beschränkung auf ein einzelnes Modell sehr wohl geschehen kann. Zugleich erhöht die Entwicklung eines Repertoires aus alternativen nischenhaften Lösungen, auf die im Fall von künftigen Krisen zurückgegriffen werden kann, die Resilienz des Systems.“

 

Gerade die lokale Vielfalt von Schulen bedingt unterschiedlichste Konzepte: Was in einer Stadtteilschule funktioniert, ist vielleicht auf dem Land nicht realisierbar. Schulen brauchen daher mehr Autonomie, flexiblere Gestaltungsmöglichkeiten, mehr bottom-up-Durchlässigkeit.

Die gute Nachricht ist, dass es bereits eine Vielzahl durchdachter, bedarfsorientierter Projekte und Initiativen gibt, z. B. hier. Man muss sie suchen und dann den Mut haben, sie umzusetzen. Dafür sollten sich Schulen entweder trauen, ihre Freiräume auch wirklich auszunutzen (nach dem Motto "It's easier to ask forgiveness than it is to get permission") oder müssen Ministerien ihnen diese öfter zugestehen. Ansonsten werden das die alternativen Schulen übernehmen.

 

Denkbar wäre auch der flächendeckende Einsatz von Brückenbildner*innen zwischen den einzelnen Schulen und den Kommunen bzw. der (Um-)Welt. Diese Kräfte wären damit betraut, passende Projekte zu finden und in der Schule zu verankern. Sie würden das Schulprofil schärfen, bedarfsgerechte Lösungen implementieren und evaluieren und könnten somit Lehrkräfte und Schulleitungen erheblich entlasten. Im Kulturbereich gibt es bereits das sehr erfolgreiche Projekt der „Kulturagenten“ – wenn es nicht von besonders kulturbegeisterten Ministerien gestoppt wurde, um Geld zu sparen.

 

Unstrittig ist – nicht nur aufgrund der gestiegenen, kaum mehr allein zu bewältigenden Anforderungen und veränderten gesellschaftlichen Voraussetzungen – dass es Schulen helfen würde, noch viel mehr mit außerschulischen Partner*innen und Expert*innen zusammenzuarbeiten: sich für andere Lernorte, Herangehensweisen öffnen, in den Austausch gehen und von anderen Blickwinkeln aufs System profitieren. Allzu oft reproduziert sich in Schule das, was immer schon galt, aber so kommt niemand weiter.

 

4 Klein anfangen – groß bleiben

Mit genügend Durchhaltevermögen und Standhaftigkeit, verbunden mit einem selbstkritischen, sich immer wieder selbst evaluierenden Weiterentwicklungsdrang, können aus „marginalen Nischenlösungen stabile und praxistaugliche Alternativen zum existierenden System entstehen“. Projektlaufzeiten hingegen untergraben Veränderungen. Thümler bringt als Beispiel die Leseförderung, die mit einem Nischenprogramm starten kann, wie z. B. das in den USA und anderen Ländern mittlerweile erfolgreiche „Success for All“-Projekt, über das der Autor bereits hier geschrieben hat. Da wurden im kleinen Rahmen inhaltliche und strukturelle Veränderungen eingeführt, die dann reif für eine nationale, mittlerweile internationale Umsetzung waren.

 

Man könnte auch Initiativen wie die Draußenschule, GemüseAckerdemie, Service-Learning oder den FREI DAY als Beispiel der inhaltlichen und vor allem aber strukturellen Veränderung heranziehen, die genau das versuchen: klein anfangen, um groß bleiben zu können. Gemeinsam ist all diesen Beispielen übrigens, dass sie von staatlicher Seite keine oder kaum Förderung erhalten. Das ist zwar erschreckend, macht sie aber nachhaltiger, weil sie nicht an Projektlaufzeiten gebunden sind, die dann irgendwann wieder wegfallen – s. o.… Diese und viele, viele andere sinnvolle Initiativen sind gerade am Entstehen und Erstarken. Bleiben werden sie nur, wenn sie möglichst breit nachgefragt und umgesetzt werden – von Schüler*innen, Eltern, Lehrkräften, Schulleitungen.

 

5 Politischer und gesellschaftlicher Rückenwind

Zuletzt, und das ist m. E. das Herzstück von Transformationsprozessen, braucht es „politische Rückendeckung“ und Unterstützung bei der Begegnung von Widerständen und Vorbehalten. Denn diese sind zu erwarten, wenn ein veraltetes System in die Gegenwart und Zukunft transformiert werden soll: Da sind Lehrkräfte, denen ein Rollenwandel bevorsteht, welchen viele ohne Hilfe wahrscheinlich nicht bewältigen können oder wollen. Da sind Eltern, die ihre Kinder als Versuchskaninchen für neue Bildungsmethoden gefährdet sehen. Da sind Schüler*innen, die ihre Visionen einer guten Schule verwirklicht wissen wollen, aber dennoch so an das System gewohnt sind, dass auch sie erst umdenken müssen.

 

Und da sind viele, die es anders sehen, die sich dafür einsetzen, dass sich etwas ändert. Sie sollten lauter werden, präsenter – „so lautstark wie die Fridays for Future“, meint Thümler in der ZEIT. Aber sie müssen auch leise sein, zuhören und aufklären. Sie müssen vor allem Fragen stellen und infrage stellen.

Die Antworten gibt dann hoffentlich die Zeit. Eine Wahl haben wir ohnehin nicht, denn wenn wir noch länger warten, hat das System irgendwann uns transformiert. 

 

Bild: pixabay, Danke an Rickbrk

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© Clara Baumgartner