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Der Erdkinderplan oder: Wohin bloß mit pubertierenden Schüler*innen?!

 

Montessori-Schulen sind aus der deutschen Schullandschaft nicht mehr wegzudenken und auch in anderen Schulen, staatlich oder privat, fließt die Pädagogik des Sich-selbst-Helfens vermehrt ein.

 

Dass Maria Montessori eine ganz eigene Vorstellung davon hatte, wie junge Menschen in der Pubertät die Schule erleben sollen, ist hingegen weniger bekannt. Das sollte sich ändern, denn ihr  „Erdkinderplan“ hält einige Impulse bereit, die die Schule von heute (immer noch) ziemlich gut gebrauchen kann.

 

Wohin mit Pubertierenden?

Wer einmal in einer Klasse unterrichtet hat, deren Schüler*innen gerade die spannende Phase der Pubertät erlebt haben, weiß, dass es berechtigt ist, danach zu fragen, wie für die Schüler*innen Lernen überhaupt möglich ist, wenn sich vom Körperbau bis zu den Neuronen ungefähr alles ändert.

 

Das war zur Zeit von Maria Montessori nicht sehr viel anders und so beschreibt sie in ihrem Buch „Von der Kindheit zur Jugend“ (hier online nachlesbar) also eine Alternative zur Schulbank. Die „Erdkinder“ ab 12 Jahren sollen die Zeit fernab von ihren Familien unter der Sonne, inmitten der Natur, am Meer oder am Wald verbringen, in flachem Gelände, ohne große Höhenunterschiede – um eine Überanstrengung des Herzens zu vermeiden, sich dabei vitaminreich und fleischlos ernähren… - - - Man sieht: Die Pädagogin hat sich viele Gedanken gemacht.

 

Manches davon mutet aus heutiger Sicht zugegebenermaßen seltsam an. Aber darum soll es gar nicht gehen, denn der Grundgedanke im „Erdkinderplan“ ist immer noch zukunftsträchtig: Wer pubertiert, sollte nicht in die Schule müssen. Junge Menschen sollten vielmehr den Raum bekommen, um ihre Persönlichkeit zu entwickeln und zwar im Dialog mit der Gesellschaft, dabei Selbstwirksamkeit erfahren, Naturverbundenheit erleben, Zugehörigkeit empfinden, an etwas arbeiten, das größer ist als sie selbst.

 

… an außerschulische Lernorte!

Drei Lernorte sind in Montessoris Plan dafür vorgesehen: ein Bauernhof, ein Gasthof, ein Laden. Dort soll die Ausbildung von Hand und Kopf erfolgen, von Tatkraft und Verstand.

 

Auch hier mag man einwenden, dass heute ja wohl an anderen Orten Gesellschaft „passiert“: an sozialen und Kultureinrichtungen, in Großkonzernen, NGOs etc. Stimmt! Deshalb versuchen die Montessori-Schulen, die dem „Erdkinderplan“ gerecht werden wollen, auch eigene Wege: Da gibt es Theaterprojekte, Gartenparzellen, Praktika, soziale Projekte, Hilfseinsätze und Schulfirmen. Hauptsache, weg von der Schule.

 

Wer sich kennt, weiß eher, was er (werden) will

Interessanterweise kritisiert Montessori nämlich an der „höheren Schule“, dass sie auf eine berufliche Zukunft vorbereitet, als wäre diese immer noch stabil und friedlich. Dabei ist das längst nicht mehr so, berufliche Karrieren sind mittlerweile überaus flexibel, unvorhersehbar und kräftezehrend. Statt „strenger Spezialisierung“ forderte Montessori damals die Entwicklung einer „schmiegsamen und lebendigen Anpassung“ und das Einbeziehen körperlicher Reifeprozesse sowie damit einhergehende Bedürfnisse. Und auch der Kern dieser Kritik findet sich in Reden heutiger Bildungsinnovator*innen wieder, z. B. wenn es um die Zukunftskompetenzen geht.

 

„Erdkinder“, die zumindest teilweise auf herkömmlichen Unterricht verzichten, haben keine Nachteile bei der Berufswahl, wie das Beispiel der Montessori-Schule Potsdam zeigt. Dort wurde der Erdkinderplan im Rahmen der „Jugendschule am Schlänitzsee“ umgesetzt: Die Jahrgänge 7 und 8 verbringen die Hälfte ihrer Schulzeit im Freien: beim Pflanzen, Ackern, Füttern, Ernten, Bauen, Reparieren… (Mehr dazu in diesem Video.) Die ehemalige Schulleiterin Ulrike Kegler betont, dass für die jungen Menschen dadurch kein Nachteil entsteht: „Am Ende können unsere Jugendlichen, die acht Jahre lang keine Zensuren haben, die zwei Jahre kaum zur Schule gehen, die gleichen Prüfungen – zentrale Prüfungen – mit so guten Ergebnissen ablegen, dass sie ihren weiteren Bildungsweg so gestalten können. Und ich finde, das ist schon etwas, was man auch wirklich weitergeben kann: Macht nicht die falschen Dinge zur falschen Zeit.“  

 

Ihr ist aber auch bewusst – und darauf verwies auch Montessori – dass den individuellen Begabungen der Schüler*innen nicht Rechnung getragen werden kann, wenn es über ein paar Jahre gar keine intellektuelle Förderung mehr gibt. Manche Jugendlichen wünschen sich Theorie und Wissen und sollten dies auch bekommen, denn es geht nicht darum, „Studenten in Bauern umzuwandeln“, wie die Pädagogin so schön schrieb.

 

Was sich aber in jedem Fall zeigt, ist, dass es für Jugendliche, die an außerschulische Lernorte gewöhnt sind, wie zum Beispiel in skandinavischen Ländern, keine Qualitätsunterschiede zwischen Lernen in der Schule und Lernen draußen gibt. Während in staatlichen Schulen „Rausgänge“ oft mit Pausen gleichgesetzt werden und Eltern skeptisch sind, wenn immer mehr „klassischer Unterricht“ aufgelöst wird, ist dort klar, dass Lernen überall stattfinden kann, wenn man es zulässt.

 

Finanzielle Unabhängigkeit als Erziehungsziel

Auch interessant am Erdkinderplan ist das Ziel, „den jungen Menschen in den Stand zu versetzen, seine wirtschaftliche Unabhängigkeit zu gewinnen. Es geht darum, eine „Erfahrungsschule des sozialen Lebens“ (…) zu schaffen. Diese „Unabhängigkeit“ hat überdies einen mehr erzieherischen als praktischen Wert“, so Montessori.

 

Oftmals habe ich beobachten können, wie viel Freude es Jugendlichen macht, Geld zu verdienen bzw. allgemein zu wirtschaften. Ob beim Weihnachtsbasar oder Kuchenverkauf, durch Straßenmusik oder Schulfirmen – finanzielle Unabhängigkeit als Form der Selbstwirksamkeit ist für viele Jugendliche faszinierend. Das heißt aber nicht, dass ihr Interesse daran in Schule befriedigt wird, wie folgendes Beispiel zeigen soll: In einer 9. Klasse, die ich beaufsichtigen sollte, kam einmal ein Berufsberater der Arbeitsagentur, um über Berufsorientierung zu referieren. Die einzige Frage, die ihm nach dem 1,5-stündigen Vortrag gestellt wurde, war, wie man Hartz 4 bekommen kann. Einerseits fand ich die Situation beschämend, andererseits konnte ich diese Frage auch irgendwie nachvollziehen: Die Jugendlichen haben nie erfahren, wie viel Freude es macht, selbst tätig zu werden, sich gebraucht zu fühlen, sich für etwas einzusetzen und dabei auch noch Geld zu verdienen. Dass dann ein bezahltes Nichts-Tun verlockend scheint, überrascht nicht. Aber wie schön wäre es gewesen, wenn der Schüler stattdessen gefragt hätte, wann man ein eigenes Unternehmen gründen kann?

 

Fazit

Am schönsten am Erdkinderplan finde ich, dass es darin ums Prinzip geht, darum, dass es eine Zeit für alles gibt – für Wissensvermittlung und praktisches Tun, fürs Klassenzimmer und den Gemüsegarten. Darin steckt sowohl eine Verantwortung als auch eine Chance: eine Verantwortung gegenüber dem Potenzial und den Bedürfnissen der jungen Menschen und eine Chance für eine zeitgemäße Schule und mehr Zusammenhalt in der Gesellschaft.

 

Die Montessori-Oberschule in Potsdam jedenfalls – übrigens eine staatlich anerkannte Reformschule – macht die richtigen Dinge zur richtigen Zeit und mit ihr auch viele andere Schulen, die den Erdkinderplan ins 21. Jahrhundert übersetzen. Vielleicht an anderen Schulen auch einen Versuch wert?

© Clara Baumgartner